Für die eigene Internet-Präsenz:
„Aufmachen!“ sagt der Zöllner an der Grenze. Ruhig suche ich das
Taschenmesser heraus und öffne die Originalverpackung des „Widex“-Karton. Beim Anblick der fabrikneuen Hörsysteme herrscht Verwirrung bei den Uniformierten. Ruhig
entfalte ich den beigelegten Lieferschein und bin erfreut in der Preisspalte eine
deutliche Null erkennen zu können. Damit ist
dieser Wert des Geschenkes auch
geklärt. Genauso verhält es sich auch bei den unübersehbar vielen Müsli- Kartons und Schachteln. Auf dem
Übernahmeprotokoll der Firma Brüggen war das
Wort „Ural“ und „Spende“ deutlich erkennbar. Jetzt fehlt nur noch der Rayovac-Karton. Aber der ist ganz unten im VW-Bus bei den vielen
gebrauchten und gespendeten Hörsystemen. Stattdessen wollen die Zöllner
den DETAX-Karton mit der Abformmasse sehen. Auch dieser Karton ist
ordnungsgemäß als Spende ausgewiesen. OK, das
übliche Spiel, das an vielen Grenzen der Welt gespielt wird, findet hier nicht
statt. Denn normalerweise hat der Zoll das Recht einen Wert festzulegen und
weil ich die Ware befördere muss ich dafür gerade stehen. Schnell wird
bei einer solchen Ladung dann der Wert von
1500 Euro überschritten und das übliche Tauziehen, wer der Stärkere ist,
beginnt. Dann kann man leicht als Straftäter gelten oder es wird einem die
Einreise verweigert. So ist internationales Recht nun einmal.
Aber hier geht es glatt!
Diesmal
bin ich im Begleitfahrzeug für eine Motorradgruppe dabei. Diese besteht in
diesem Jahr aus 12 Motorradfahrern, die sich auf den Weg quer durch Russland
zum 6500 km entfernten Baikalsee gemacht haben. Nahezu alle sind zum ersten Mal
in Russland. Ich mache Service, das heißt ich fahre der Gruppe immer hinterher,
bringe das Gepäck zum Zielort und unterstützt die Reiseleitung im Hintergrund. Ich besorge frisches Obst für die Rast,
organisiere Werkstätten wenn es zu
Defekten kommt, betreibe Kontaktpflege oder bereite das eine oder andere
Treffen mit Motorradfahrern in den nächsten Tagen vor. Nebenbei kann ich mich
den Hilfsgütern widmen. Zwar treffe ich den Präsidenten des BMW-Club St.
Petersburg nicht persönlich an, aber sein „Geschenk“, bestehend aus 2
SIM-Karten für das russische Netz, erreichen mich. Der Aufenthalt in Petersburg
ist nur kurz. Die weißen Nächte sind schon vorbei und es regnet ein wenig. Kein
schönes Wetter für Fotos. Bei Giesbert auf der Datscha ist es wieder ländlich
gemütlich. ER wohnt zwischen Moskau und St. Petersburg im Waldai. Auch Herr
Putin hat hier ein kleineres Wochenend-Domizil. Dubna,
Sergejew-Possad, irgendwann sind wir sehr spät in
Kazan. Obwohl alle von der Fahrt erschöpft sind rate ich dringend zu einem
Stadtbummel in dieser außergewöhnlichen Stadt. Es ist die Hauptstadt der Tatarischen
Republik, muslimisch geprägt und außerordentlich sauber und schön. Ich besuche
die lutherische Kirche. Die Kirche ist inzwischen auch mit staatlicher Hilfe
fertiggestellt. Lidmilla Pankrova
kenne ich schon. Zufällig stellt sich auch Pastor David Horn ein und begrüßt uns.
Die
nächste Station ist Perm. Ganz versteckt in einer Nebenstraße in unmittelbarer
Nähe des Zentrums liegt die 150 Jahre alte, kleine evangelische Kirche.
Ein Mann in Arbeitskleidung fegt den Platz vor
der Kirche. Als ich nach dem Pastor frage, gibt er sich als solcher zu
erkennen. Ich hinterlasse ein kleines Geschenk für seinen Sohn, der
ein begeisterter Motorradfahrer ist. Leider kann der Vater, Pastor
Dawid Rerich, diesem Hobby nicht viel abgewinnen.
Doch er unterhält sich mit mir
freundlich. Sein Sohn arbeitet in der nahen Fabrik und ist noch nicht zu Hause,
so dass ich nicht selbst mit ihm sprechen
kann!
Als
der „wilde Westen“ in Amerika erobert wurde besann sich Russland auf die
Ländereien jenseits des Urals und
„eroberte“ Sibirien. Unermessliche Bodenschätze wurden hier insbesondere unter der Regentschaft von Katharina II
ausgebeutet und machten das Land sehr reich.
Jekaterinburg, die Stadt im Ural, die Katharinas Namen trägt, ist für mich ein besonderer Anziehungspunkt. Seit Jahren
pflege ich den Kontakt zur Schule 126 mit angeschlossenem Internat. Zirka 150 Schülerinnen und Schüler
mit unterschiedlichen Graden der
Schwerhörigkeit werden hier beschult und können im Internat wohnen. Jewgeni Shuneilow, Stadtverordneter und Vertreter des
Patenbetriebes für diese Schule,
begleitet mich. Wir werden von der stellvertretenden Direktorin empfangen. Auf dem Tisch türmen sich
Berge von frischen Obst, Gemüse, Butterbrote und Leckereinen. Wir unterhalten uns über die Ereignisse des letzten
Jahres. Die Schule findet national große
Beachtung wegen der Lehrmethoden und der Integration der Jugendlichen in die russische Gesellschaft. Ich höre interessiert zu.
Zu
meinen Geschenken gehört eine sehr große Anzahl von Batterien für Hörsysteme. Diese
müssen in Russland von den Schülern
bzw. deren Eltern, selbst gekauft werden. Häufig wird von den Eltern das Geld hierfür anderweitig verwendet. Jetzt
haben die Lehrkräfte die Möglichkeit diesen Kindern zu helfen. Weiterhin gehören zu meinen Geschenken eine Anzahl
fabrikneuer Hörsysteme. Weil der
Staat, je nach Hörverlust, nur einen kleinen Zuschuss zu den Hörsystemen gibt,
tragen viele Kinder nur Hörsysteme mit veralteter Technik. Damit fällt ihnen
das Verstehen in der Schule schwer. Außerdem haben viele nur eine monaurale Versorgung,
obwohl sie eigentlich binaural versorgt werden müssten. Jetzt kann die
Schulleitung zielgerichtet helfen. Den größten Raum nehmen aber die Müsli-Riegel
und die vielen Kartons Korn-Flaks ein. Gleich einen ganzen großen Sack voller Müsli-Riegel stelle ich im
Direktorenzimmer ab. Ich fühle mich wie ein Weihnachtsmann.
Es ist ungewiss,
Nur
wenige Kilometer von Jekaterinburg befindet sich der Ort Nishni
Tagil, ein bedeutendes Zentrum des militärisch
industriellen Komplexes. Hier, in einem Dorf, wohnt Stefan Semken. Bei
Stefan wohnen wir mit der Gruppe und machen einen Ruhetag. Stefan organisiert
einmal im Jahr eine Aktion zur Verbesserung
der Versorgung mit Hörsystemen. Im letzten Jahr konnten wir innerhalb einer
Woche ca. 300 Hörsysteme anpassen. Auch
in diesem Jahr habe ich eine große Anzahl gespendeter Altgeräte im Gepäck.
Doch um viele Geräte anpassen zu können bedarf es auch guter Otoplastiken. Ich habe ich eine große
Menge Direkt-Abformmasse im Gepäck, die ich hier bis zur nächsten Aktion
deponiere.
Danach gilt es „Kilometer zu
machen“! Zum Glück sind die Straßen Autobahnmäßig ausgebaut und wir schaffen
die täglichen 800 km problemlos. Bereits nach einigen Tagen sind wir in
Novosibirsk. Novosibirsk ist eine pulsierende Stadt. Als heimliche Hauptstadt
Sibiriens kann sie 1,5 Millionen
Einwohner aufweisen. Sie zählt weltweit zu den am schnellsten gewachsenen Städten, in weniger als 100
Jahren entwickelte sie sich von einem Dorf zur
Millionenmetropole. Noch heute kommen täglich ca. 100 Personen als Migranten nach Novosibirsk. Nach offiziellen
Angaben leben 18 % der Bevölkerung in extremer Armut. 32 % der Familien sind alleinerziehende Mütter mit einem oder
mehreren Kindern, deren soziale Situation zumeist besonders schwierig ist1.
In
dieser Umgebung arbeitet Petr Sokolov. Mit seinen
knapp 30 Jahren ist er der Leiter der Caritas in Novosibirsk. Zu seiner Station gehört auch ein
Kinderheim. Zirka 50 Kinder werden in diesem Heim betreut im Alter von 5 bis 18 Jahren. Gewalt, Tot,
bittere Armut, es gibt nichts was diesen Kindern fremd ist. Die Kinder werden in Absprache mit dem Jugendamt der Stadt
dem Heim zugewiesen. Häufig sind es
solche Kinder, die von staatlichen Heimen nicht gerne genommen werden. Außerdem unterstehen Petr eine
Kindertagesstätte, die Obdachlosenhilfe und
die Hauskrankenpflege. Einen
offiziellen Pflegedienst gibt es nicht. Viele ältere Menschen leben allein in einer Wohnung in einem
Wohnblock. Ihre Kinder sind oft weit entfernt, 2-3 tausend Kilometer sind keine Seltenheit. Nachbarschaftshilfe
kann nicht alles ersetzen. Hinzu kommt,
dass insbesondere ältere Menschen häufig arm sind. Die Ersparnisse sind durch die Geldentwertung
dahin, etwas was wir in Deutschland so nicht mehr kennen. Die staatliche
Rente wird nur schleppend der Inflationsrate angepasst. Die letzte Rentenerhöhung betrug 20 %, der Rubelkurs
sank in der gleichen Zeit um 50 %. Die Preise
steigen unaufhaltsam. Geflügel kostet 10 Euro je kg im Sonderangebot und
Milch kann bis zu 3 Euro der Liter
kosten! Ja, die Sanktionen der EU wirken sich langsam aus.
Noch
lange sitzen wir an diesem Abend zusammen, denn Petr interessiert sich sehr für das Motorradfahren. Nebenbei komme ich
auch mit Ottmar Steffan ins Gespräch. Er ist
aus Deutschland angereist um hier die 100. Kuh zu übergeben. Hilfe zu
Selbsthilfe heißt konkret: Die ärmsten Familien in einem Dorf erhalten
eine Kuh. Häufig sind in den Dörfern noch die Stallungen für das Vieh intakt. Aber die
Arbeit ist weniger geworden und so verlassen
viele Männer das Dorf um in der
Stadt ein regelmäßiges Einkommen zu haben. Rentner, Frauen, Kinder und Halbwüchsige wohnen überwiegend noch in den
Dörfern. Warum sollen Sie sich nicht
um eine Kuh kümmern? Sie gibt den Älteren eine sinnvolle Beschäftigung, die Kinder haben, insbesondere während der
Sommerferien, eine sinnvolle Aufgabe und nebenbei gibt es Milch, die inzwischen so teuer geworden ist.
Die
Schule Nr. 37 ist eine der Schwerhörigenschulen der
Stadt Novosibirsk. Sie befindet sich
in der Innenstadt, nicht allzu weit von Bahnhof entfernt. Insgesamt gehen hier 180 Schülerinnen und Schüler zu Schule.
Sie werden von 80 Pädagogen betreut. Das
angeschlossene Internat bietet 120 Kindern Unterkunft, Verpflegung und
Heimstatt, denn diese Kinder gelten
als behindert und werden zu Hause nicht gerne gesehen. Meine Zeit reicht nicht
aus um diese Schule zu besuchen. Also bitte ich Irina, unsere Dolmetscherin und Reiseleiterin in Irkutsk, um den
Gefallen, ein paar Pakete mit Hörgerätebatterien und Werbeartikel bei dieser Schule vorbeizubringen. Nach
einigen Tagen erhalte ich per email die Rückmeldung. Die Lehrkräfte waren so angetan
von der Aktion, dass sie mir ein kleines Paket zusammenstellten. Darin enthalten waren
Kinderzeichnungen. Auch fanden sich Tonfiguren, die diese Kinder im handwerklichen
Unterricht gefertigt haben. Die Kinder lernen auch, wie man aus Stoffresten
Puppen fertigen kann. Einige schöne Exemplare lagen dem Paket auch bei.
Zu
sehr haben wir uns an das Fahren in Russland gewöhnt. Unspektakulär wie selten
auf meinen Reisen bringen wir die restlichen Kilometer bis zum Baikal hinter uns. Unser Chalet am Baikal liegt
etwas tiefer in einem Tal aber bietet einen hervorragenden Service. Wir
verleben schöne Tage am Baikalsee. Die Motorräder fahren
derweil mit einer Spedition nach Moskau zurück. Auch hier hat sich inzwischen
alles gut „eingespielt“. Die Rückreise mit der Transsibirischen Eisenbahn in einem normalen Zug ist normalerweise für alle
eine Herausforderung. In diesem Jahr sind auch hier keinerlei Probleme zu
erkennen. Moskau empfängt uns mit einer nicht gekannten Sauberkeit und
einem Pomp, der mir noch nie so deutlich wurde. Sind das noch die Nachwirkungen
des 70. Jahrestages des Sieges, der hier als heiliger Feiertag über allen
Feiertagen steht??
Gewohnt
anders empfängt uns das Baltikum. Recht zügig fahren wir über Kleipeda nach Hause. Mit gemischten Gefühlen aber zufrieden
kehre ich nach Deutschland zurück. Wieder einmal Sibirien, widerbeinmal 5 Wochen
in Russland!