Weites Russland!

Ich hatte Jürgen (www.mottouren.de) schon lange in den Ohren gelegen, dass ich gerne mal wieder mit ihm bzw. seinem Motorradreiseunternehmen MOTTOUREN unterwegs sein möchte. Irgendwann sagte er, es würde klappen. Er stelle gerade eine Gruppe zusammen, die er zum Baikal führen würde. Ich könne mitfahren, müsse aber den Begleitbus fahren. Okay, was macht man nicht alles, nur um noch einmal dorthin zu kommen.

Wie für viele andere Menschen besitzt der Baikal für mich eine geradezu magische Anziehungskraft - der tiefste See der Erde, der 20 % allen Süßwassers speichert, die Hälfte aller Pflanzenarten an und in ihm gibt es nur hier - alles nur Superlative. Und dann die Entfernungen… Vor sieben Jahren war ich schon mal mit dem Motorrad dort gewesen, aber es zieht mich immer wieder dorthin. Also beiße ich in den sauren Apfel, opfere meinen Jahresurlaub und spiele für die „Biker“ zwischen 50 und 72 Jahren den Fahrer und Gepäckträger für ihre Ersatzteile, Werkzeuge, Klamotten und Reservekanister.

Die Reise beginnt in Kiel. Während einige der Teilnehmer ganz relaxt den Ereignissen entgegen blicken, lernen andere die Route auswendig. Die Maschinen glänzen und sind wie für eine Weltreise hergerichtet - Kamerahalterungen, Navigationsgeräte, Stollenreifen, eben die ganze Bandbreite an Ausrüstung. Bereits im Baltikum beginne ich den armen Jürgen zu bedauern, der als Veranstalter in meine Augen manchmal mehr Kindermädchen als Tourguide ist. Den ersten Schock erleben wir an der russischen Grenze. Zwar fahren wir an der Schlange der wartenden Autos zur Grenzabfertigung vorbei, doch nach drei Stunden Wartezeit bedeutet man uns, dass nur die Motorräder abgefertigt werden, der Tourbus aber ans Ende der Schlange zurück müsse. Fünf Stunden später sind die Motorräder in Russland, haben aber noch eine Strecke von 300 km vor sich. Für mich im Begleitfahrzeug dauert es über 20 Stunden, bis ich abgefertigt werde. Merke: 100 Jahre sind keine Zeit in Russland. Hier ticken die Uhren anders. Du musst ja nicht dahin fahren und wenn doch, musst Du Dich darauf einstellen.

Unter den 13 Teilnehmern sind viele, die „auf Arbeit“ einiges zu sagen haben. Gruppendynamisch entwickelt sich ein interessanter Prozess. Jürgen lässt bei aller klaren Struktur alle notwendige Freiheit zu. So weichen wir gleich hinter Moskau von der geplanten Route ab und genießen Weite und Natur, die man in Deutschland vermisst. Blöd nur, wenn Umwege die Fahr- und Ankunftszeiten deutlich verlängern. Es dauert aber noch bis hinter den Ural, bis aus einer Gruppe Individualisten ein Team geworden ist. Es ist schon von Vorteil, wenn man mit jemandem unterwegs ist, der Sprache, Land und Leute kennt und versteht, weiß wie sie ticken. So erhalten alle einen tieferen Einblick in das Land, erfahren, wie es diesen Menschen gelingt, mit ihrem Einkommen ihr Leben zu meistern. Aber auch, dass ein Hotelzimmer dem monatlichen Durchschnittseinkommen eines Rentners entsprechen kann. Weitere Vorteile: In der Gruppe wird man von der Polizei seltener angehalten denn als Individualreisender. Wir werden oft durchgewunken, es wird für uns sogar die Straße gesperrt. Nachteil ist, dass eine größere Gruppe weniger leicht spontane Einladungen erfährt.

Russland erweist sich immer wieder als Land der unerwarteten Begegnungen. Als wir kurz nach dem Besuch des Dreifaltigkeitsklosters in Sergejew Possad, 70 km hinter Moskau am „Goldenen Ring“ eine Rast machen, spricht uns ein Motorradfahrer an und lädt uns zum Besuch der größten Ikonenmalerei Russlands ein. Auf dem Weg zum Hotel in Kasan folgen uns zwei junge Motorradfahrer, haben Spaß daran, mit uns zu sprechen. Prompt arrangiere ich mit ihnen eine nächtliche Stadtführung. In Ishewsk tauchen zwei Motorradfahrer vor dem Hotel auf. Im Gespräch stellt sich heraus, dass einer von ihnen in Deutschland geboren wurde. Prompt haben wir am nächsten Morgen eine Stadtführung. In Irbit besuchen wir die Schmiede der russischen Motorradmarke Ural. Ist es ein Zufall oder wie hat es Jürgen geschafft, dass wir vom Direktor empfangen werden. Der Chefingenieur macht eine Werksführung und bevor wir das Motorradmuseum besichtigen, kommt unter riesigem Presserummel noch der Bürgermeister zur Begrüßung vorbei. In der Nähe von Perm, der östlichsten Stadt Europas, besuchen wir ein ehemaliges Straflager. Das moderne Russland geht inzwischen offener mit seiner Geschichte um. Zwar wird nicht alles von Staat gefördert, aber verhindern kann man auch nicht mehr alles. Jurjatino - so nannte Nobelpreisträger Boris Pasternak das heutige Perm in seinem Roman „Doktor Schiwago“. Er beschreibt darin ein Haus so anschaulich, dass es die Bewohner von Perm sofort wiedererkannten. Wir besichtigen es im „Vorbeifahren“. Nach einem Viertel der Fahrstecke erreichen wir endlich den Ural. Von einem Gebirge zu sprechen, erscheint uns eher als Übertreibung, denn der Pass, über den wir fahren, erreicht gerade mal 500 m. Doch weiter nördlich erreicht dieses Mittelgebirge in der sonst flachen Landschaft fast 1.900 m Höhe. Der Übergang zwischen Europa und Asien ist so sanft, dass einige Teilnehmer das Denkmal, das die Grenze zwischen den Kontinenten symbolisiert, glatt übersehen. Wie schön, dass auf der anderen Seite endlich ein Ruhetag folgt.

Ruhetag ist auch so ein Wort, unter dem sich jeder etwas anderes vorstellt. Stefan, der in Bingi in den Sommermonaten ein einfaches Hostel unterhält, empfängt uns typisch russisch mit einem Begrüßungswodka, Brot und Suppe. Russisch ist auch das Ambiente. Wie nahezu überall in Russland - außer in den Städten - gibt es kein fließendes Wasser. Also auch nur Plumpsklos. Genosse Lenin hat es zwar geschafft, das gesamte Land zu elektrifizieren, aber die Wasserversorgung ist noch entwicklungsbedürftig. Also - waschen im Fluss! Zu unserer Überraschung funktioniert das Internet leidlich. Welch ein Fortschritt gegenüber früher, als man auf eine Telefonverbindung Stunden warten musste. Auch in den Hotels unterwegs haben wir Internetverbindungen, ausreichende Geschwindigkeit und kostenlos. Stefan macht den Vorschlag, am Ruhetag die nähere Umgebung zu erkunden. Gute Idee. So besuchen wir ein Goldbergwerk und die Zarengedenkstätte Ganina Jama. 1918 hatten die Kommunisten das Oberhaupt aller Kirchen in Russland - als Zar hatte er bereits abgedankt - verschleppt und ihn mit seiner Familie getötet. Bei Jekaterinburg wurden sie in einem Stollen verscharrt, nachdem man mit Säure und Feuer versucht hatte, alle Spuren zu verwischen. Kein Wunder, dass im Jahr 2000 die Zarenfamilie durch die russische Kirche heiliggesprochen wurde. Sogar der russische Staat stellte 2008 in einem Dekret fest, dass die Ermordung unrechtmäßig war. Auf dem Gelände steht heute für jedes Mitglied der Zarenfamilie eine Kirche. Zufall oder wieder gelungene Planung, wir treffen hier am Jahrestag der Ermordung ein. In der Nacht zuvor hatten fast 40.000 Menschen in einer Prozession dem Zaren gehuldigt. Eindrucksvoll dieser Ort und die Menschen, die wir antreffen. Tiefgläubige, charismatische Menschen, Weltverschwörungstheoretiker und in ihrem Glauben verklärte.

Wir sind also in Asien. Die westsibirische Tiefebene ähnelt der auf der europäischen Seite des Urals, ist aber doppelt so groß. Bis zur Mündung haben die Flüsse auf 2-3.000 km einen Höhenunterschied von nur 50 m zu überwinden. Weite Ebenen, nur gelegentlich ein Reiter, der Rinder hütet. Wir durchfahren an diesem Tag nur eine Stadt, Ishim, ansonsten ist auf dieser 650 km Etappe nur gelegentlich ein Dorf zu sehen. Zu allem Unglück macht eine BMW „schlapp“. In der 1,1 Millionen Einwohner Stadt Omsk kann man uns nicht helfen. Alternativ können wir 1.500 km zu einer BMW-Vertretung zurückfahren oder 1.500 km weiter und auf Hilfe hoffen.

Novosibirsk, am Rande dieser 3.000 km großen Ebene, ist die heimliche Hauptstadt Sibiriens. Drei BMW-Vertretungen im Ort verkaufen nur Autos und sind nicht in der Lage, uns zu helfen. Also wird improvisiert. Dima, ein ortsbekannter Schrauber, schafft es über Nacht, alle drei Motorräder instand zu setzten. Egal ob Stahlflex-Bremsschlauch („besser als das Original!“), Radlager („kein Wunder, war ja auch falsch eingebaut!“) oder Elektronik („habe 100 km Probefahrt in der Nacht gemacht, sollte in Ordnung sein!“), Dima ist der Mann für alle Fälle! Mit einem Blick auf den VW Bus empfiehlt er eine befreundete Werkstatt aufzusuchen. Nach einem kleinen Vorschuss werden innerhalb von wenigen Stunden beide Federn gewechselt (eine waren gebrochen) und die 4 defekten Stoßdämpfer gegen verstärkte ausgetauscht, Gummilager gewechselt, das Getriebe abgedichtet und noch einige Kleinigkeiten behoben. Russland hat mich wieder einmal nicht enttäuscht! Probleme werden dann bekämpft, wenn sie auftreten und nicht vorher. Den ADAC braucht man nur für den ultimativen Fall! Merke: Wer immer mit dem Schlimmsten rechnet, verliert den Sinn für die Realität!

Novosibirsk, Krasnojarsk, auch andere sibirische Städte haben mich positiv überrascht. Langsam kommt das Land in Schwung, zu erkennen auch am Bauboom. Alte Häuser werden renoviert, modernisiert oder einfach platt gemacht und gegen architektonische Protzbauten ersetzt. Man zeigt was man hat! Dass der Genosse Lenin auf seinem Sockel steht, wird toleriert. In den Hotels findet man ansprechenden Service und manchmal wird hinter den Tresen auch freundlich gelächelt! Da hat sich viel getan. Der Verkehr in den Städten nimmt chaotische Züge an, dafür ist es in den Weiten des Landes umso ruhiger. Die Menschen betteln nicht mehr, sie sind selbstbewusster und informierter als noch vor einigen Jahren. Die flächendeckende Funknetzversorgung und das Internet haben sicher dazu beigetragen. Kinder fotografieren uns mit ihren Handys. Zwar kommt immer noch die Hälfte aller Autos aus Japan, aber auch die heimischen Marken sind vertreten. In den Dörfern ist der Einfluss der Kirche unübersehbar. Auf unserer Reise nach Osten treffen wir zunehmend auf Moscheen und Datsane, buddhistische Tempel. Das dörfliche Leben ist nicht allzu abwechslungsreich. Trotzdem sind viele Menschen mit der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage zufriedener als noch vor einigen Jahren. Daran ändert auch die ambivalente Haltung zur Regierung wenig: Moskau ist weit! Wir machen hier unser eigenes Ding! Solange wir Arbeit haben und zu essen, stört es wenig, wer uns regiert.

Mit großer Spannung hatte ich den Abschnitt hinter Krasnojarsk erwartet. Beim letzten Mal konnte ich mich an unbefestigte Straßen erinnern, teilweise ging es quer über Äcker. Umso größer war meine Enttäuschung, denn in den frostfreien Monaten werden heute Tag und Nacht im Akkord Straßen gebaut oder befestigt. Man kann es sich inzwischen leisten, Maschinen einzusetzen und preiswerte Gastarbeiter aus den ehemaligen Sowjetrepubliken zu beschäftigen. Das ist wirtschaftlich und flexibel. Die Umgehungsstraßen mögen für den Fernverkehr gut sein, für uns versperrten sie aber einen Einblick in das dörfliche Leben hier in der Taiga. Also immer mal wieder einen Abstecher auf die alte Trasse. Es ist auch nicht mehr schwer Hotels zu finden. Aber viele schlafen unterwegs im Fahrzeug oder bei Verwandten. Auf der Strecke passieren wir Baustellenabschnitte von 20-50 km Länge. Baustelle heißt in diesem Falle: Grobsplitt!! Häufig staut sich auf diesen Abschnitten der LKW-Verkehr und die große Hatz beginnt. Es wird um jeden Zentimeter gekämpft und da Fahrbahnmarkierungen fehlen, können einem auch mal vier Fahrzeuge nebeneinander begegnen. Mann, bin ich über die neuen Federn und Stoßdämpfer froh! Und die Motorräder? Spätestens nach diesen Etappen zeigen sich Materialermüdungen. An abgefallene Teile und häufige Reifenpannen gewöhnen wir uns und bald weiß jeder, wie man einen platten Reifen flicken kann. Die mitgeführten Ersatzreifen und Schläuche wurden nur missmutig zur Kenntnis genommen.

Es geht in weiter in südöstliche Richtung. Eine vielfältigere Landwirtschaft deutet auf eine Großstadt hin: Irkutsk. Bereits 30 km vor dem Zentrum wähnt man sich inmitten dieser über 600.000 Einwohner zählenden Stadt. Herausgeputzt hat sich dieser Ort. Immerhin feiert man seinen 350. Geburtstag. Nach weiteren 80 Kilometern sind wir endlich in Listwjanka am Baikal. Wir beziehen die gleiche Unterkunft, die auf meiner letzten Reise hierher hatte. Bei Andrej und Janna wohnen wir auf einem Felsen, mit Blick auf dem See. Viel hat sich in Listwjanka nicht verändert. Aus dem geplanten mondänen Urlaubsdomizil für Oligarchen ist nicht viel geworden. Individualtouristen verirren sich hierher, Bustouren kommen zu Tagesausflügen im Sommer aus Irkutsk. Ansonsten leben die Menschen unter sich, so wie immer. Wir genießen das.

Viel wird über die Umweltverschmutzung durch Papierfabriken berichtet. Aber daraus zu schlussfolgern, dass eine Papierfabrik (wie viele gibt es in Finnland und wer überwacht sie?) schlagartig 20 % des Süßwassers der Erde vernichtet, ist eine gewagte Hypothese. Auf der Hauptinsel Olchon gibt es, wie überall um den See, keine geordnete Abfallwirtschaft. Aber der Massentourismus ist zumindest in Listwjanka ausgeblieben. Einzig das wilde Campen und die Tagestouristen stellen eine ernsthafte Gefahr für die weite unberührte Natur dar. Aber dieses UNESCO-Weltkulturerbe „Baikal“ wird argwöhnisch beobachtet und das ist gut so. „Blaue Perle Sibiriens“, „Riviera Sibiriens“, „Brunnen des Planeten“ - viele malerische Umschreibungen gibt es für das heilige Meer der Burjaten, der größten ethnischen Minderheit in Sibirien. Ein Besuch im örtlichen Museum zeugt von der Artenvielfalt, die es hier zu bestaunen gibt. Mit dem Ausflugboot kann man zur alten Strecke der Transsibirischen Eisenbahn fahren, die sich malerisch am Seeufer entlang schlängelt. Erst wenn man im See badet, weiß man wie kalt 10 Grad sein können.

Während die Reiseteilnehmer noch einige Zeit am Baikal bleiben, um dann mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Moskau zu fahren, bereite ich mich mental auf die Rückreise vor. Jürgen hatte es organisiert, dass die Motorräder mit einem LKW auf der Straße nach Moskau befördert werden. Aber das geht für den VW Bus nicht. Also machen wir uns zu zweit auf den ca. 6.000 km langen Weg nach Moskau. Wir brauchen 93 Stunden. Während der eine fährt, kann sich der andere auf dem Gepäck der Teilnehmer ausruhen. Unterwegs erkunden wir noch einige Strecken für kommende Reisen. Die Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn ist für die Teilnehmer ein Erlebnis der besonderen Art. Hatten sich alle bis zum Baikal an individuelles Fahren gewöhnt, mitunter an die Grenze der körperlichen Belastbarkeit, so ist man jetzt auf engem Raum mit vielen Menschen zusammen, ohne viel Bewegungsraum. Aber auch diese 78 Stunden Bahnfahrt gehen zu Ende!

Ein intensiver Tag in Moskau zum Abschluss. Nach der Abreise aus dieser chaotisch - eindrucksvollen Stadt kann jeder Beteiligte ehrlichen Herzens sagen: Moskau ist nicht Russland! Der Grenzübertritt in die EU klappt überraschend schnell. Nach zwei Stunden sind alle abgefertigt. Nach den vorangegangenen Erfahrungen wirken die knapp 1.000 km bis zur Fähre in Klaipeda für alle wie ein Katzensprung. Völlig relaxt und ausgestattet mit vielen Eindrücken vergehen die letzten gemeinsamen Stunden wie im Fluge.

Ade Russland mit deinen weiten Entfernungen, ade die unnötigen Sorgen im Vorfeld, die vielen unbenutzten Ersatzteile, die unnötigen Versicherungen, die vielen Vorratsbehälter. Wir haben es gemacht. Wir waren am Baikal! 16.000 km in 32 Tagen, die Motorräder fast 9.000 km. Sieben Zeitzonen! Ein Eindruck fürs Leben oder wie sagt Jürgen: „Auf der Route 66 fahren sie alle, aber auf der M53 durch Sibirien…“

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