Der Empfang ist herzlich. Anton, den wir im letzten Jahr
kennen gelernt hatten, empfängt uns an der verabredeten Stelle. Noch am Abend
vorher hatte uns sein Clubvorsitzender Igor zugesichert, dass alles klappen würde.
Aus Antons chinesischer 250er ist eine stattliche 750er Virago geworden. Auch
sonst scheint es ihm wirtschaftlich besser zu gehen. Vor der Besichtigung der bedeutendsten
Ikonenmalerei Russlands werden wir noch in ein nahegelegenes Lokal zum Essen eingeladen.
Erst langsam realisiere ich, dass sein Begleiter der Direktor des Unternehmens
ist. Auch er ist ein begeisterter Motorradfahrer. Aber mich beschäftigt etwas
ganz anderes: Paul ist weg! Einfach so an der wartenden Gruppe vorbeigefahren. An
mehreren möglichen Abzweigen steht er nicht! Dazu kommt, dass er nicht in der
Lage ist, die kyrillischen Ortsschilder zu lesen und so den Abzweig nach Palech
verpasst hat. Er hat zwar ein Roadbook, aber wer weiß, ob er sich daran halten
wird. Mitten im Smalltalk beim Imbiss platzt die Nachricht, dass er im Ort
gesichtet wurde. Jürgen versucht noch, ihn einzuholen, aber bis er
Motorradjacke, Helm und Handschuhe angezogen hat, ist Paul schon wieder über
alle Berge. Nach vielen vergeblichen Versuchen können wir ihn über das Handy
erreichen. Wir fordern ihn auf, allein die 250 km Landstraße nach Nishni
Nowgorod zu fahren, um uns dort im Hotel zu treffen. Nun verstehen auch die
anderen Teilnehmer der Reise, dass nicht nur die Sprache, die Landkarte, die
Versicherung oder die Ersatzteile ein Problem bei einer Gruppenreise in
Russland sein können. Das allerwichtigste ist ein Telefon mit den Nummern der
Teilnehmer, insbesondere die der Organisatoren und eine volle Handybatterie! Wenigstens
diesen Ratschlag hatte Paul befolgt. Also können wir unser Programm „abspulen“ und
erhalten durch den Werkdirektor nicht nur eine „Spezialführung“, sondern auch
Antworten auf eigentlich jede Frage. Etwa 250 Mitarbeiter, überwiegend Frauen,
fertigen hier im Akkord Ikonen für den immensen Bedarf der orthodoxen Kirchen
in Russland und in den Nachbarländern. Jede Malerin führt nur bestimmte
Arbeiten aus. So ist gewährleistet, dass die hohe Kunst dieser Technik auf
gleichbleibendem Niveau gehalten wird. Regelmäßige Schulungen an Hand alter
Abbildungen und Kataloge der Museen sorgen dafür, dass der Stil der Ikonen
erhalten bleibt, denn Ausdruck und Haltung sowie Farben jedes Heiligen sind
seit Jahrhunderten festgelegt und dürfen nicht verändert werden. Zum Abschied
bekommen wir noch frisches Brot geschenkt, eine sehr große Ehre in Russland, damit
wir den weiteren langen Weg zum Baikalsee gut bewältigen.
Kurz vor unserer Abfahrt kommt die nächste Nachricht: Paul
hatte einen Unfall. Er sei unverletzt, aber seine Maschine wäre fahrtuntüchtig.
Also setze ich mich in den Bulli und fahre los. Unter anderem für solche Fälle
haben wir das Begleitfahrzeug dabei. In den Telefonaten zwischendurch gibt mir Paul
die Koordinaten durch, die er von seinem Blackberry abgelesen hat. Er steht ca.
75 km von der eigentlichen Route entfernt mitten in einem kleinen Dorf in einer
riesigen Waldgegend. Als ich mich seinem Aufenthaltsort auf wenige Kilometer
genähert habe, der nächste Schock: Die Koordinaten, die er mir durchgegeben hat,
stimmten mit dem Format unserer Garmin Geräte nicht überein! Also im
Schnelltempo an den Polizeistreifen am Wolga-Stausee vorbei. Staumauern sind nämlich
sicherheitsrelevante Objekte und werden besonders argwöhnisch durch die Polizei
überwacht! Zügig weiter zum Platz der Havarie. Als ich endlich bei ihm
eintreffe, ist Jürgen schon da. Paul hat einige leichte Schürfwunden, der Helm
ist aufgeplatzt, ein Blinker abgebrochen und der Zylinderkopfdeckel seiner 30
Jahre alten BMW R 80 GS durch seine Rutschpartie durchgescheuert. Bei
strömendem Regen hatte er einen LKW überholen wollen und sei dabei in eine
Spurrille geraten. Das Aquaplaning hatte ihn zum Bremsen veranlasst und seinen
Sturz zur Folge gehabt. Ich bin mir nicht sicher, ob ihm klar war, wie viele
Schutzengel er bei dieser Aktion gehabt hatte.
Igor ist der Motorradclubvorsitzende der Region
Wladimir/Susdal und unser nächstes Hotel ist 400 km von ihm entfernt. Aber wir
sind ja in Russland! Auf meine SMS mit der Bitte um Hilfe folgt nur ein kurzes
„Warte“. Paul probiert währenddessen sein Glück bei BMW in Deutschland und beim
ADAC. Kurze Zeit später erreicht mich dann die Mitteilung: Um 20 Uhr meldet
sich jemand bei Euch im Hotel, dem gibst du das Teil und dann wird dir
geholfen! Genau so war es auch. Am nächsten Tag um 15.00 Uhr haben wir den reparierten
Seitendeckel in der Hand; sauber ist das Aluminium aufgeschweißt und der Deckel
ist dicht. Inzwischen hat auch der ADAC geantwortet: In 3-5 Tagen könnten wir
vielleicht aus Deutschland Ersatz erhalten, wenn bis dahin die Formalien für
den Import nach Russland geklärt sein sollten und wir eine Empfangsadresse
angeben würden.
Acht Mal bin ich mittlerweile in Russland, zum
wiederholten Male mit meinem Freund Jürgen. Mit seinem Unternehmen MOTTOUREN
ist er der Spezialist für Motorradreisen in den Osten. Auf dieser Reise bin ich
das „Mädchen für Alles“ und fahre das Begleitfahrzeug. Ich genieße damit den
Vorzug, trocken zu sitzen und habe den Nachteil hinterher zu fahren. Aber da
ich die Gepflogenheiten in Russland gut kenne, dauert es bei allen Begegnungen
und Treffen, oft auch unmittelbar am Wegesrand, nur wenige Minuten bis auch ich
Teil des Geschehens bin.
Dieses Mal waren wir mit der Fähre nach Russland
eingereist. Ich konnte St. Petersburg zum ersten Mal während seiner „weißen
Nächte“ besuchen, leider es regnete es! Auf halbem Weg nach Moskau begrüßen uns
die Waldai-Biker und laden uns ein. Wir dürfen uns in diesem bedeutsamen
Naturschutzgebiet nördlich von Moskau, in dem auch Putin seine Datscha hat,
erholen. Mitten dabei ist Jürgens Freund Gisbert, der seit über 25 Jahre als
Korrespondent in Russland lebt. Er ist es auch, der uns das russische Leben mit
Datscha auf dem Lande und Stadtwohnung in Moskau näher bringt. Unser Weg führt
uns um Moskau herum zur Klosterstadt Sergejew Possad, das ehemalige Sagorsk, inzwischen
Weltkulturerbe und später am Nachmittag erreichen wir Susdal. Nach einer
Stadtführung sitzen wir noch lange mit Vertretern des lokalen Motorradclubs
zusammen. Höhepunkt dieses Teils der Reise auf dem „Goldenen Ring“ im Umkreis
von 300 km um Moskau sollte eigentlich die Ikonenmalerei in Palech sein. Stattdessen
ereignet sich die oben erwähnte Episode.
Ab Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan, fahren
wir wieder gemeinsam weiter. In Ishewsk, Hauptstadt der benachbarten Republik
Udmurtien, empfängt uns am Stadtrand Dimitri mit seinen Freunden vom örtlichen
Motorradclub. Er ist in Parchim bei Schwerin geboren, spricht aber kein Deutsch.
Wir hatten ihn bereits vor einem Jahr auf unserer letzten Reise nach Sibirien
kennengelernt. Unser Aufenthalt in dieser Industriestadt reicht für den Besuch
des neuen Kalaschnikow-Museums und für eine ausführliche Stadtführung am
nächsten Morgen. Hier, im Nord-Ural, befand sich im 2. Weltkrieg das Zentrum
des Handfeuerwaffenbaus. Auf der Weiterfahrt lernen wir die andere Seite der
Stalin-Zeit kennen: das Straflager „Perm 36“. Als letzter aktiver GuLag war es
noch bis zur unter Gorbatschow aktiv und wird nun auf Initiative der ehemaligen
Insassen als Museum bewahrt.
Mag es an diesen ergreifenden Momenten liegen, dass auf
der Weiterfahrt von einigen die Grenze Europa-Asien und das dazugehörige
Denkmal am Straßenrand übersehen wird? Ein paar Stunden später erwartet uns in
Bingi, einem kleinen Dorf schon in Sibirien, Stefan Semken. Sein Motto: „Russland ist nicht Teil Europas und deshalb ein wenig anders.“
Um das zu verdeutlichen, ermöglicht er seinen Gästen in einem russischen Dorf
übernachten und stellt im Sommer Jurten in seinem Garten auf. In den Gesprächen
mit ihm, den Dorfbewohnern oder dem Popen kann jeder authentische Informationen
über das Leben hier erhalten. Dazu gibt es viele Tipps zum Erkunden der näheren
Umgebung dieser Landschaft östlich des Ural.
Wir bleiben zwei Tage, erleben ein authentisches
Russland, ohne fließendes Wasser und ohne Kneipe oder anderen Annehmlichkeiten
der „Zivilisation“. Gegensätzlicher könnte der nächste Aufenthalt nicht sein:
Tjumen, das Zentrum der Erdgasindustrie, ist nicht nur als modern, sondern
schon beinahe als pompös zu bezeichnen. Die vielen Datschas in der Umgebung und
die futuristischen Neubauten in der Stadt, zahlreiche hochpreisige Automarken
zeugen vom Reichtum der Region, basiernd auf der Erdölförderung.
Die folgende Etappe nach Omsk führt unweit
der kasachischen Grenze vorbei. Genau wie wir benutzen viele Kraftfahrer diese
Route. Güter werden auch hier „just in time“ auf der Straße transportiert.
Obwohl der Straßenbau in Russland Hochkonjunktur hat, sind noch viele Haupt-
und Nebenstrecken in einem bedauernswerten Zustand. Über jede Baustelle freue
ich mich, denn man weiss bei einem schlechten Streckenabschnitt nicht, ob er
100 m oder 100 km lang ist.
Landwirtschaft mit riesigen Flächen
begleitet uns bis Novosibirsk. Ich verlasse zwischendurch die Hauptstraße und
besuche deutschstämmige Siedler in einem kleinen Dorf. Das Leben in diesen
Dörfern erschrickt sogar mich! Klar, wenn die Felder 200 ha groß sind, dann
sind die Entfernungen zwischen den Dörfern entsprechend.
In Novosibirsk gelingt es Dimitri, unserem lokalen Schrauber,
nicht, die immer wieder überkochende Ducati dauerhaft zu reparieren. Mit BMW
kennt er sich besser doch aus. Auch hier sind die Veränderungen ersichtlich: Dimitri
hat inzwischen Familie und arbeitet deshalb nicht mehr am Sonntag. Inzwischen
ist seine Auftragslage so gut, dass er einen Angestellten hat. Währenddessen
werden wir von den „Weißen Wölfen“ betreut. Wir können Kfz-Werkstätten
besichtigen, in denen soziale Projekte mit benachteiligten Jugendlichen
durchgeführt werden. Bei den zahlreichen Motorsportveranstaltungen in der
Region wurden in vielen Kategorien Auszeichnungen und Preise errungen. Völlig
ungewohnt für viele Teilnehmer der Tour ist der Besuch des Ehrenhains für die
Gefallenen des 2. Weltkrieges. Dieses mehrere Hektar große Gelände ist übersät
mit Gedenktafeln, Monumenten und Waffen des Krieges. Die Verehrung der Gefallenen
des zweiten Weltkrieges hat in Russland Züge einer „Schein-Religion“, um von
vielen gesellschaftlichen Problemen abzulenken.
Auf der Weiterfahrt nach Kemerowo ist es nicht mehr zu
verheimlichen: die Taiga brennt! Bereits in Novosibirsk konnten wir nur schwer
Fotos machen, die Luft ist ausgesprochen diesig. Jetzt lechzen wir nach
Regenschauern, die für kurze Zeit die Luft reinigen. In diesen Sumpfgebieten
ist es schwierig, eigentlich unmöglich, die zahlreichen Brände zu löschen. Bis
man in Moskau auf das Problem aufmerksam wurde, stand hier ein Gebiet von der
Größe Westeuropas in Flammen. Auch in den Bergen um Krasnojarsk ist es nicht
besser. Von den Kohle- und Erzlagerstätten im Kusbas-Gebiet sehen wir entlang
der Straße nur wenig. Umso überraschender die Begegnungen in Taischet, einem
ehemaligen Verwaltungs-Zentrum für die zahlreichen russischen, deutschen und
japanischen Zwangsarbeiter und einem der wichtigsten Knotenpunkte der
Transsibirischen Eisenbahn. Hier wohnt Igor, ein Deutschlehrer, der inzwischen
als Verkäufer für Waschmaschinen arbeitet, um seine Familie ernähren zu können.
Igor zeigt uns seine Stadt, aber auch ein ethnografische Museum „in der Nähe“ -
100 km entfernt – das über die letzten hier lebenden halbnomadischen
Ureinwohner berichtet.
In Tulun wird Steinkohle abgebaut, die hier schon in 5
m Tiefe liegt. Wir besichtigen einen der größten Schaufelradbagger der Welt,
der als strategische Reserve sein Dasein fristet. Bewacht wird er von Irina,
die hier seit Jahren im Wechsel mit ihrem Kollegen im Wohnwagen Dienst
verrichtet. Sie freute sich riesig, uns zu sehen, denn sie hatte es nicht
glauben wollen, als wir ihr im vergangenen Jahr versicherten, dass wir wieder
kommen würden.
Der Baikal! Für viele Menschen steht nicht die Reise
dorthin im Mittelpunkt, sondern der Baikal-See selbst. Aber ist nicht die Reise
dorthin der Schlüssel zum Verständnis über die Bedeutung dieses Sees? Erst die bewusste
Reise durch die vielfältigen Gebiete und Regionen Russlands macht deutlich,
dass nicht die Entfernung in Kilometern den Reiz ausmacht, sondern das Wandeln
durch die verschiedenen Kulturen und Landschaften mit ihren nationalen
Minderheiten und Eigenarten. Es ist müßig aufzuzählen, was die Größe und die Berühmtheit
dieses Sees ausmacht, das kann jeder im Lexikon besser nachlesen. Viel
erwähnenswerter ist die Tatsache, dass hier auch der letzte Teilnehmer
begriffen hatte, dass wir uns in einer anderen Welt befanden. Widerspruchlos,
wenn auch mit einem Zögern, wurden die Motorräder mitsamt Dokumenten einer
Spedition anvertraut. Alle kannten die Straßen, die dieser LKW innerhalb von 4
Tagen in Tag- und Nachtfahrt zurückzulegen hatte! Und wir wussten inzwischen,
dass unser Rechtsverständnis die Behörden in Russland nur zum Lachen anregt. Alle
hatten zum Baikal reisen wollen und stellten nun fest, dass er zu groß ist, um in
wenigen Tagen alle Besonderheiten zu erleben.
Für unsere Rückfahrt nach Moskau nahmen wir die
Transsibirische Eisenbahn, in Russland das zuverlässigste Verkehrsmittel. Auch
in den Zügen müssen wir uns den russischen Bedingungen fügen. Dazu gehört auch,
dass in einem Waggon keinen Strom für die diversen Ladegeräte und Laptops zu erhalten
ist, wenn eine Zugbegleiterin ihre Macht ausspielt und behauptet, dass die
Staatsbahn Strom sparen müsse. Warum das in anderen Waggon nicht der Fall sei, wollte
sie uns nicht erklären. Vier Tage auf engen Raum in einem Abteil, in dem
gegessen, geschlafen und gelesen wird, ist für manchen Motorradfahrer ein
Alptraum. So sind wir froh, endlich in Moskau anzukommen. Klasse, im Hotel können
wir bereits um 8.00 Uhr morgens die Zimmer zu beziehen. Dafür ist aber auch der
Übernachtungspreis mindestens doppelt so hoch wie in Deutschland.
Wohl dem, der bis hierher mit allen Sinnen die Reise
aufgenommen hat: die unendliche Weite des Landes, die scheinbare
Rückständigkeit in den ländlichen Gebieten, die langen Transportwege, das
extreme Klima und die unterschiedlichen Zustände auf den „Autobahnen“ und
Straßen. Wer meint, in Moskau gewesen zu sein und deswegen glaubt, Russland zu kennen,
wird nach solch einer Reise eines anderen belehrt. Nein, Moskau ist nicht
Russland! Auch wir haben die Sehenswürdigkeiten dieser 12 Millionen Stadt gesehen,
haben den prunkvollen Kreml, die Metro, die Klöster und Kirchen besichtigt.
Aber was sagt das über ein Land aus, das 50-mal größer als Deutschland ist und
von dem wir nur etwa die Hälfte auf einem schmalen Band durchreist haben? Auch
wenn wir mit Borodino, Smolensk und Katyn weitere historisch wichtige Orte
Russlands besuchten, so sieht inzwischen mancher Teilnehmer Russland mit
anderen Augen. Um mir aber ein Urteil oder eine eigene Meinung über Russland
und die dortigen Verhältnisse zu bilden, werde ich sicher noch mehrmals dieses
Land bereisen. Wie viele, die wiederholt in diesem eindrucksvollen Land waren, werde
auch ich den „Virus Russland“ nicht los. Eventuell trifft man sich ja irgendwo,
warum nicht in Russland?!
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